KOMISCHE MUSIK  

im Podewil, Berlin 19. - 22. JUNI 1997

 
 

Programmtext
Der große Pianist mißt 1 Meter 52. Vor dem letzten Ton der A-Dur-Kadenz- bricht er ermattet zusammen, fällt auf eine streunende Katze, die ein Cis miaut, der Beleuchter des Konzertsaals staunt laut auf E. Und der Pianist stößt im Fallen ein ächzendes A aus. Tragischer Dreiklang!

Komische Musik?Sie läßt irgendwelche Gesichtsmuskeln in Aktion treten. Entweder den Lachmuskel (und wo liegt der?) oder den Nasenrümpfmuskel. Das Komische ist laut Jean Pauls berühmter dialektischer Definition Das Umgekehrt Erhabene, gewissermaßen die Negativschale zum Ernsten und Tragischen. Durch das Komische wird das Ernste und Tragische zerstört; je erhabener etwas ist, umso tiefer kann es ins Komische gestürzt werden und uns vom Druck der hohen Werte momenthaft entlasten. Gibt es das Komische also nur vor ernstem Hintergrund? Nicht erhaben ist, wenn im Konzertsaal gehustet wird und manche streng schauen, wenn jemand laut stöhnt, pupst oder rülpst, wo rituelle Stille gefordert ist. Das Moment einer irritativen Überraschung nutzen Musiker geschickt aus, wenn die regelgerechte Kadenz statt auf der Tonika auf einer schrägen Autohupe endet. Schon im 15. Jahrhundert finden wir Parodien auf ehrwürdige Formen mit Hundegebell und anderen Tierlauten, auch sind sog. Kontrafakturen populär, meist Motetten, die durch neue, anspielungsreiche und frivole Texte verkehrt werden. Im 19. Jhdt. wird die parodistische Nachahmungsästhetik in der Trivialmusik fortgesetzt; die Humoreske verschafft einen kurzweiligen Abend. Der endgültig tabulose, spielerische Umgang mit Musik, Instrumenten und Wort ist eine Errungenschaft des 20. Jhdts. Syntax von Musik und Text wird verschoben, zerlegt, mit üblicher Harmonik wir Schabernack getrieben. Lautpoetische Verfremdungen versprühen dadaistischen Charme. Instrumente werden gebastelt, deren Namen obskure Komik anzeigen: fünfzüngige Ratschenmaschinen, Querstromlüfter, Pfeifenschläuche, Latrinophone, Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Skier und Telefonbücher sind ernst zu nehmende Instrumente geworden. Die bürgerliche Erscheinung des Musikers wird valentinesk gebrochen. Die Komik wird aus dem überraschenden Bruch und der Übertreibung der Konventionen gewonnen. Aber was ist mit dem Erhabenen, an dem sich das Komische immer wieder neu entzünden muß, um sich und uns zu regenerieren? Im Gedenken an Tiny Tim, der mit Tip-Toe Thru The Tulips auf den Lippen, seinem größten Erfolg, am 30. November 1996 in Minneapolis starb. "Der Schrillste", wie er zu Recht genannt wird, war zu unserem Festival eingeladen und hatte bereits zugesagt. 

 
 
 

19.6.97 Quasi klassisch 
Präludium: Erik Satie: 
Gymnopedie Nr.1
Angelika Maisch, Klavier
20:00 Uhr  Kreuzberger Nasenflötenorchester
Karl Valentin:  Der Antennendraht (Film)
Michael Glasmeier: Karl Valentin als Musiker (Vortrag)
Clément Jannequin: La Chasse
Adriano Banchieri: Contrapunto bestiale alla mente
Musica Mensurata, Leitung: Wilfried Staufenbiel
Kurt Schwitters: Die Ursonate (Ausschnitte)
Frieder Butzmann
Wolfgang Amadeus Mozart: Ein musikalischer Spaß KV 522 (Dorfmusikantensextett)
Kammerensemble Neue Musik Berlin

Komische Musik: Quasi klassisch Der erste Tag des Festivals Komische Musik führt Parodie, Wort, Geräusche, Poesie, Hundegebell und gekonnt schlechte Musik zusammen. Die Aufführungen stehen im Zeichen jener, die Musik nicht immer todernst nahmen. Auf sie gilt es sich zu berufen! So eröffnet das unvergleichliche Kreuzberger Nasenflötenorchester um den Endart-Künstler-Galeristen "Chicken" das Festival mit einem Potpourri der schönsten Melodien aus der Welt der klassischen und populären Schlager. Karl Valentin, dessen Werk als Musiker von Michael Glasmeier gewürdigt wird, verpatzt die Chance, Schillers Glocke als Geräuschemacher zu illustrieren. Die Texte der Stücke von Clement Jannequin (1472-1560) und Adriano Banchieri (1568-1634) lesen sich als wuff wuff, gnaf gnaf, miau miau. Frieder Butzmann versucht sich in einer exzessiven Interpretation des Klassikers der Lautpoesie, der Ursonate von Kurt Schwitters (1887-1948) über das Thema füms böwötä zä u pö gif. Und bei Mozarts Musikalischem Spaß in der merkwürdigen Besetzung für Streichquartett und zwei Hörner sollte man den Hornisten keinen Vorwurf machen; die schiefen Töne stehen so in der Partitur! Aber es geht Mozart um mehr: eine geistreiche Abrechnung mit der öden Gebrauchsmusik seiner Zeit durch spannungsvolles Leerlaufenlassen satztechnischer und formaler Klischees.

 
 
 

20.6.97 Ton- u. Klangforscher 
Präludium: Erik Satie: 
Gymnopedie Nr.1
Angelika Maisch, Klavier
20:00 Uhr Manon Anne Gillis: Xusphrimye (Solo für Bauch)
Jerry Lewis: Jerry Lewis: Theremin Vox-Sequenz aus The Bus Boy (Filmausschnitt)
Sven-Åke Johansson: Am Beispiel Hummelflug (Vortrag mit Bild- und Tondokumenten über Spike Jones und seine City Slickers)
Fünf Stücke von Leroy Anderson Plink, Plank, Plunk! Realisation und Arrangement: 
Kammerensemble Neue Musik 
Joshua Fried: The Musical Shoe Tree

Komische Musik:Ton- u. Klangforscher Am 2. Tag des Festivals Komische Musik übt Frau Angelika Maisch aus Karlsruhe noch immer im Foyer an den Akkorden der Gymnopedie Nr.1 von Erik Satie! Ton- und Klangforscher machen vor keinen noch so abwegigen Gebrauchsgegenständen oder Körperteilen halt, um sie zum Klingen zu bringen. Manon Anne Gillis aus Paris verwandelt ihren unter einem weiten, weißen Kleid verborgenen Bauch zum Orchestrion, zum Spielplatz grotesker Geräusche und Gesten. Joshua Fried aus New York spielt, trommelt und wirbelt auf seinen eigenen und anderer Leute gebrauchten Schuhen. Film-Komiker Jerry Lewis hingegen nähert sich ahnungslos dem elektronisch aufjaulenden Theremin Vox und spielt Leroy Andersons Klassiker der Büromusik auf einer alten Schreibmaschine (Sie alle werden ihn wiedererkennen!). Die Musik des Big-Band-Leaders Anderson aus den 30er und 40er Jahren bringt auch die Musiker des Kammerensembles Neue Musik zum Swingen. Seine Stücke Plink, Plank, Plunk!, The Sandpaper Ballet, Summer Skies, The Syncopated Clock, The Typewriter sind reich garniert mit musikalischem Slapstick, akustischer Objektkomik, jeder Menge Überraschungseffekten, schwindelerregenden Tempowechseln und genialen Tonartrückungen. Noch weiter trieb es Spike Jones mit seinen City Slickers. Er ist der Hochgeschwindigkeitsmusiker der 30er und 40er, er schießt, wirft mit Schlagstöcken, die rhythmisch präzise die Trommel treffen und läßt Gießkanne und Latrinophon erklingen. All dies kommt uns aus amerikanischen Cartoons bekannt vor! Sven-Åke Johansson präsentiert einige der Leckerbissen von Spike Jones in Wort, Ton und Bild. 

 
 
 

21.6.97 Gute Unterhaltung
Präludium: Erik Satie: 
Gymnopedie Nr.1
Angelika Maisch, Klavier
20:00 Uhr Göttin Gala: Lieder und Gesänge für Schlagzeug, Stimme und andere Überraschungen
Der Plan: Draußen am Bahnhof liegt 'ne alte Pizza (Video)
Thomas Kapielski: Alles Tutti (Vortrag)
Joachim Matzner Meine Huster Joachim Matzner rekonstruiert seine Huster in Konzerten Klassischer Musik der 50er Jahre (Vortrag mit Musikbeispielen) 
The Melody Five Steve Beresford, Keyboards, Stimme und andere Zutaten Lol Coxhill, Saxophon, Stimme und andere Zutaten 

Komische Musik: Gute Unterhaltung Frau Maisch im Foyer übt immer noch.... Gute Unterhaltung ist, wenn uns das Bekannte plötzlich unbekannt vorkommt. Göttin Galas Wahlspruch lautet: "Auch im Schrott ist Gott". Die Göttin, ehemals im Hard Core-Sektor tätig, hat inzwischen ins lyrisch-triviale Fach gewechselt. Noch immer ist sie eine schlagkräftige Schlagzeugerin. Sie begleitet sich selbst, angereichert mit viel auf der Straße und zu Hause gefundenem Klimbim, zu ihren lapidaren, plakatiefsinnigen Texten. Der Neuköllner Aboriginale, Bierspezialist und Erfolgsautor Thomas Kapielski trägt eine Abhandlung über den Musikerwitz vor. Joachim Matzner trauert gelöschten oder unauffindbaren Aufnahmen Klassischer Musik aus der Zeit nach, als er Programmdirektor Klassik beim Bayerischen Rundfunk war. Der Plan aus Düsseldorf, die experimentelle Neue-Deutsche-Welle-Band der frühen 80er, hat Nette Gespensterkostüme angezogen und durchsucht die Mülltonnen am Bahnhof. Ein weiterer Höhepunkt des unterhaltsamen Abends sollte der Auftrtitt von The Melody Five werden - der Welt kleinstem Quintett. Die Mitglieder des M5, der eine an Kater Carlo erinnernd, der andere an seine eigene Tante, neigen dazu, neben ihren stimulierenden Fleddereien im Fundus der jüngeren Jazz- und Easy Listening-Geschichte sich auf der Bühne wortwitzig zu streiten und gelegentlich auch wieder zu versöhnen. Ein Konzert für die ganze Familie! 

 
 
 

22.6.97 Der Gute Ton
12:00 Uhr (Matinée im Café) Erik Satie: GymnopedieNr.1 
Angelika Maisch, Klavier 
Erik Satie:  Sports et Divertissements 
Matthias Osterwold, Klavier 
Fieder Butzmann, Sprecher 
Volker Straebel: Anmerkungen zur Psychodiagnostik des komischen Tons (Vortrag)
Hans Reichel & Rüdiger Carl: Daxophonien und Akkordionien
Postludium: Erik Satie: Embryons Dessèches: L'Holoturie (Version Holoturian!
Angelika Maisch, Klavier 

Komische Musik: Der Gute Ton Endlich Satie! Die Morgen- bzw. Mittagsmusik des Festivals ist eingekeilt von Angelika Maischs Satie-Interpretationen. Konnte sie seit Beginn des Festivals nicht den Anfang der schönen Melodie der Gymnopedie Nr.1 finden, so kommt sie nun in ihrer bearbeiteten Version des 1. Stückes aus den Vertrockneten Embryonen: Holoturian! einfach nicht zu einem Ende. Die beiden Programmgestalter Butzmann und Osterwold vertreiben spielerisch-sportlich die Zeit mit Saties eleganten Miniaturen. Hans Reichel hingegen begleitet den Morgenkaffee mit verschiedenen Daxophonen, kleinen Stückern Holz, die, von einem Cellobogen angestrichen, den quäkenden Schrei eines norwegischen Dachses hervorbringen. Volker Straebel nähert sich seinem schwierigen Gegenstand mit der für ihn bekannten Präzision und Gründlichkeit.

 
 
 

20:00 Uhr (in der Parochialkirche) Parochial Show Time

Strandjungs
The Legendary Stardust Cowboy

Komische Musik: Parochial Show Time Erst die sagenhaften Beach Boys aus Dortmund (sprich: Strandjungs) mit ihren unnachahmlichen Originalsound und den schönen Eindeutschungen Surfen aufm Baggersee, Hilf mir Sonja, Kaffeebraun etc... und dann Hilly Billy is zapping through space with a Geiger Counter: Der Legendary Stardust Cowboy (The Ledge) läßt alles vergessen, was man über Country 'n' Western gelernt hat. Und dann gibt es eine große Explosion und mittendrin singt der Spacecowboy aus Kalifornien begleitet von ehemaligen Mitgliedern der Dead Kennedys ein Liebeslied. 

Programm: Frieder Butzmann und Matthias Osterwold 
in Zusammenarbeit mit Nicolas Collins 
Spezieller Dank an Angelika Maisch 
Mit freundlicher Unterstützung von The British Council und AFAA 

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